C.2 Türkische Sprachvarietäten |
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Türkische Sprachvarietäten türkisch-iranischer Kontaktgebiete in Westasien: Strukturen und Funktionen
In dem seit 1997 laufenden turkologischen Projekt (Leitung bis 2002:
Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Lars Johanson) werden die türkischen
Sprachvarietäten im türkisch-iranischen Kontaktgebiet Nord- und
Südwestiran, Ostanatolien, Nordirak, Aserbaidschan untersucht.
In den ersten Phasen stand die Dokumentation und Beschreibung der
rezenten Varietäten des Gebiets anhand von Feldforschungsdaten im
Vordergrund; zur Zeit liegt der Forschungsschwerpunkt auf ihrem
historischen Werdegang nach schriftlichen Quellen ab dem 14.
Jahrhundert. Ziel der Untersuchungen ist unter anderem festzustellen,
inwieweit es eine frühere irantürkische Koiné (Adschemtürkisch, „lingua
turcica agemica“, Mittelaserbaidschanisch) mit gemeinsamen Merkmalen
gegeben hat, und inwieweit diese Sprache mit den heute dort
existierenden Sprachvarietäten in Verbindung gebracht werden kann. Dazu
wird aus den verschiedenen Quellen ein Merkmalkatalog erarbeitet.
Die heute in Iran vertretenen türkischen Varietäten sind fast
ausschließlich dem Oghusisch-Türkischen zuzuordnen; die einzige
Ausnahme bildet das Chaladsch, die Sprache einer kleinen
Sprachgemeinschaft in Zentraliran. Diese z.T. recht verschiedenen
türkischen Sprachvarietäten standen seit der türkischen Besiedlung
Irans und seiner Nachbargebiete (11. Jh.) stets unter dem Einfluss des
Persischen. Sie müssen zumindest seit dem 14. Jahrhundert auch größere
überregionale Varietäten entwickelt haben, die auch verschriftlicht
wurden. Wegen des geringen Grades der Standardisierung dieser
Schriftsprache lassen sich in den Quellen auch Elemente aus
verschiedenen historischen Varietäten der Alltagssprache belegen. Diese
historischen Sprachdaten bieten den Ausgangspunkt für einen Vergleich
mit der heutigen Sprachsituation, in der das Täbris-Aserbaidschanische
als überregionale türkische Varietät die kleineren Varietäten überdacht
und neben dem Persischen verwendet wird.
Texte
Bisher sind nur wenige Texte der Region im Kontext des Irantürkischen
untersucht worden. Viele relevante Handschriften sind nicht einmal
bekannt – sie sind in den Handschriftensammlungen verborgen geblieben,
weil sie in den Katalogen als altosmanische oder osttürkische Texte
vermerkt sind. Deshalb bildete die Suche nach geeigneten Texten einen
wesentlichen Bestandteil des Projekts.
Von den literarischen Texten sind für sprachliche Analysen solche
geeignet, die auf Grund ihres Genres einen nicht zu hohen
Sprachstandard repräsentieren:
- erzählende Dichtung in Form des romantischen Epos (Yusuf ve Züleyxa von Xata’i Tabrizi, Varqa ve Gülşah von Yusuf Meddah)
- religiös-didaktische Vers- und Prosaerzählungen, die abgesehen von
einem Rahmentext aus Fabeln und Anekdoten, Abenteuergeschichten,
Heiligenlegenden bestehen (Esrarname von Ahmedi Tabrizi, Iskendername, Şühedaname von Nişati). In vielen Fällen stellen sie
Übersetzungen aus dem Persischen dar.
- Auch die lyrische Dichtung bestimmter wichtiger Dichter der Region
ist für Teilbereiche der sprachlichen Analyse von Interesse (Divan-ı
Qavsi).
Eine weitere wichtige Quellengruppe sind Texte, die
Sprachaufzeichnungen im engeren Sinne darstellen und eine direktere
Verbindung zur gesprochenen Sprache haben. Das sind Materialien zum
Spracherwerb für Nichttürken – Glossare, Sprachführer u.ä. – zumeist
von Nichttürken verfasst und als Transkriptionstexte in anderen
Schriftsystemen als dem arabischen notiert. Zu Missionszwecken wurden
auch, u.a. in den christlichen Klöstern Irans, türkische Übersetzungen
christlicher Texte wie z.B. der Evangelien verfertigt. Im Projekt
werden zwei parallele Texte aus dieser Quellengruppe untersucht: eine
lateinschriftliche türkische Fassung des Matthäus- und
Johannesevangeliums aus Isfahan (17. Jh.) und eine wahrscheinlich
darauf zurückgehende Übersetzung der Evangelientexte in georgischer
Schrift aus Transkaukasien (Anfang 18. Jh.). Die beiden Texte eignen
sich gut zur Rekonstruktion der phonetischen, syntaktischen und
lexikalischen Struktur der “lingua turcica agemica” und ermöglichen
auch eine gewisse Differenzierung von Dialektmerkmalen.
Forschungsziele
Die wechselseitigen Beziehungen der
verschiedenen irantürkischen Varietäten und ihr Verhältnis zu den
Prestigesprachen Osmanisch (bzw. Türkeitürkisch für die rezenten
Varietäten) und Persisch – wie auch in gewissem Umfang Tschaghataisch –
sollen beleuchtet werden. Bei der Auswertung der älteren Texte ergeben
sich etwa folgende Fragestellungen:
- Wie schlägt sich die Kontaktsituation mit dem Persischen in der
sprachlichen Struktur nieder? Wie stark sind die Unterschiede zwischen
eigenständigen und aus dem Persischen übersetzten Texten?
- Kann das Adschemtürkische als Vorstufe des modernen Aserbaidschanischen bezeichnet werden?
- Heute sind das Nordaserbaidschanische der Republik Aserbaidschan
und das stärker vom Persischen beeinflusste Südaserbaidschanische in
Iran zu unterscheiden. Lässt sich eine derartige Spaltung auch schon in
früheren Jahrhunderten belegen?
- Im allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die sogenannte
„westoghusische Spaltung“ der früheren Schriftsprache
Altanatolisch-Türkisch in Osmanisch einerseits und Aserbaidschanisch
andererseits in unmittelbarem Zusammenhang mit der Etablierung der
Safawiden (um 1500) und der damit verbundenen religiösen Polarisierung
steht. Stimmt dies, oder lassen sich gewisse Divergenzen schon früher
belegen? Z.B. könnten die spezifischen Parallelen zwischen
„Iraktürkmenisch“ und Irantürkisch schon auf die Zeit der
Akkoyunlu-Dynastie zurückgehen.
- Wie lassen sich Elemente aus den jeweiligen Lokaldialekten in den Texten isolieren?
Zur Beantwortung letzterer Frage werden die Feldforschungsmaterialien
zu nicht verschriftlichten Varietäten weiter ausgewertet. Sie werden in
dieser Phase zum Teil überarbeitet (Textsammlung und Kommentarband als
Habilitationsprojekt C. Bulut: The Bayat of Iran. Cultural and
Linguistic Aspects) und dienen als Grundlage für weitere Untersuchungen
zur Dialektologie der sogenannten Übergangsgebiete im Raum
Ostanatolien, Irak und Westiran und deren Beziehung zu älteren
Sprachstufen. Im Mittelpunkt der Strukturanalyse steht das
Kopierverhalten der irantürkischen Varietäten.
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